Was ist ein Spießer?

Über einen vielleicht nicht nur deutschen Typus und die Schwierigkeit, ihn zu identifizieren.

Was ein Spießer ist, ist eigentlich keine sehr wichtige Frage, aber doch eine lehrreiche. Es lässt sich daran zeigen, wie schwer es sein kann, sich in einer fremden Kultur begrifflich zu orientieren.

Wir sind neulich in irgendeinem Text auf das Wort gestoßen, das ich dann natürlich erklären sollte; was mich ziemlich „ins Schwitzen gebracht“ hat, wie man gerne sagt.

Einfach ist der erste Teil der Definition: ein Spießer ist ein Mensch. In dieser Form natürlich ein Mann, aber es gibt (leider) auch die Spießerin. Und von hier an wird’s kompliziert: Ein Spießer ist ein Mensch, der …

Ein Spießer ist ein Mensch, der bestimmte konservative und traditionelle Ideen hat; der kein Verständnis für junge Leute hat, die etwas Neues ausprobieren wollen; für den Ordnung das Wichtigste im Leben ist; der die Freizeit vor dem Fernseher verbringt, keinerlei „höhere“, z.B. kulturelle Interessen hat, immer auf die gleiche Insel im Mittelmeer in Urlaub fliegt …

Sicher gäbe es treffendere Charakterisierungen des Spießers; aber ich habe mir nicht sehr viel Mühe damit gemacht, weil das treffendste Bild nicht wirklich helfen würde, den Spießer zu erkennen. Stellen Sie sich vor, Sie müssten allein nach einer verbalen Beschreibung ein Gesicht identifizieren können: das ist unmöglich. Das Gleiche gilt für ein solches Sozialprofil wie das des „Spießers“. Sie werden also nur dann wirklich verstehen, was ein Spießer ist, wenn

  • es entweder in Ihrer Kultur etwas ganz Ähnliches gibt, so dass Sie sozusagen bloß zu übersetzen bräuchten;
  • oder Sie den ganzen Kulturzusammenhang, aus dem der Spießer stammt, schon kennen.

Der historische Kontext ist ungefähr folgender.

Das 18. Jahrhundert war in Westeuropa die Zeit, in der das Bürgertum wirtschaftlich und teilweise auch politisch stärker wurde. Überall setzte sich eine bürgerliche Kultur durch, die sich sehr deutlich von der älteren Kultur des Adels und der Königshöfe unterschied. Die Bürger waren vernünftig und friedlich, ehrlich und moralisch; alles nützliche Eigenschaften für Geschäftsleute. Aber nicht unbedingt für junge „Romantiker“, die man als die Enkel oder Urenkel der frühen Bürger bezeichnen könnte, und die ihre Eltern und Großeltern plötzlich nur noch langweilig und „materialistisch“ fanden. Für diese Romantiker waren die braven und geschäftstüchtigen Bürger nur noch „Spießbürger“ = Spießer.

Man muss sich natürlich, wenn man um Verständnis der sozialen Typen in einer Gesellschaft bemüht ist, nicht immer mit deren Ursprung in den Tiefen der Geschichte befassen. Aber es ist ein möglicher Weg, und man lernt dabei viel mehr als nur die Bedeutung eines schwierigen Wortes.

Sicher ist nun auch klar, dass der Spießer nur aus einer bestimmten (romantischen) Perspektive ein Spießer ist. Wenn er in den Spiegel schaut, sieht er darin einfach einen ordentlichen Bürger, der für „romantische“ Spinnereien und Ego-Trips nicht viel Verständnis hat – aber bestimmt keinen Spießer. Es geht ihm also ebenso wie Ihnen, die Sie wahrscheinlich auch jetzt noch Schwierigkeiten hätten, ihn zu erkennen.

Aber vielleicht ist es ja auch besser so. Jemand, der aus einer anderen Kultur kommt, wird vielleicht am Spießer ganz andere, viel sympathischere Züge entdecken als seine ewigen Feinde, die elitären „Romantiker“. Aber auch dazu muss man ihn erst einmal identifizieren können.

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