Vögel haben keine Seele

Ein bisschen Philosophie und eine Fahrt durch den Park in Zeiten des Klimawandels.

Der französische Philosoph René Descartes hat vor ziemlich genau vierhundert Jahren die europäische Philosophie neubegründet. Dabei hat er auch ein paar Behauptungen aufgestellt, die teilweise heute noch kontrovers diskutiert werden, z.B.:

Ich denke, also bin ich.

Von der haben Sie sicher schon gehört. (Es ist nicht umsonst der berühmteste Satz der europäischen Philosophiegeschichte.) Sie ist aber nicht halb so problematisch wie eine andere Überzeugung des Franzosen, für die er noch heute von allen Tierfreunden gehasst wird. Descartes glaubte nämlich, dass Tiere keine Seele haben, dass also nichts Geistiges in ihnen ist; dass sie bloße Automaten sind, deren Verhalten Naturgesetzen folgt. Seit vergangenem Donnerstag weiß ich, dass Descartes recht hatte.

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Von Marek Szczepanek – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, via Wikipedia

Am 22.10.2020 fuhr ich, wie jeden Donnerstagmorgen, mit dem Fahrrad von Berlin-Charlottenburg nach Berlin-Lichtenberg. Ich mache meistens einen kleinen Umweg durch den Tiergarten, den größten Park in Berlin, um ein bisschen Grün zu sehen und vielleicht ein paar Kaninchen; manchmal auch einen Fuchs; oder einmal sogar hunderte großer Reiher, die sich auf ein paar Bäumen rings um eine kleine Bucht am Neuen See versammelt hatten – was ein unglaublicher Anblick war. Um den geht es aber hier nicht. Denn das passierte irgendwann im Spätsommer und ist vielleicht einfach gute Reihersitte. Man kann daraus jedenfalls nicht viel schließen, z.B. nicht, dass Reiher keine Seele haben.

Diesen Beweis erbrachten stattdessen die süßen kleinen Singvögelchen im Park, die wir alle so lieben, wenn sie im Frühling die Natur mit ihren werbenden Gesängen erfüllen. Genau das war es nämlich, was sie auch an diesem Tag im späten Oktober 2020 taten. Frühmorgens, alle zusammen, zwitscherten die lieben Vögelein – bzw. angeblich nur die Männchen – aus Leibeskräften. Das wäre im Mai oder Juni oder Juli eine Freude gewesen. Aber im Oktober nicht. Im Gegenteil. Es gibt nichts Deprimierenderes als im Oktober zwitschernde Vöglein – wenn man nur ein bisschen über ihre Gründe nachdenkt.

Im Oktober braucht man nämlich keine Weibchen mehr herbeizuzwitschern, um Familien zu gründen und Nestchen zu bauen. Es ist zu spät für dieses Jahr. Singen hat keinen Sinn mehr. Warum tut man’s also? Ganz einfach. Der Klimawandel ist schuld. Es war an diesem späten Oktobermorgen nämlich ganz ungewöhnlich warm. Man konnte, frühmorgens im späten Oktober, noch im T-Shirt fahren.

Vögel singen also nur dann, wenn die Temperatur stimmt. Nicht wenn sie Sehnsucht nach einem Weibchen haben; sondern bei 18 Grad. Nicht wenn sie in fröhlichem Einklang mit dem großen Ganzen der lebendigen Natur dem Frühling einen jubelnden Empfang bereiten möchten; sondern wenn der Wärmesensor in ihrem Roboterkörper 18 Grad meldet, oder 20, je nach Spezies. Vögel haben kein Herz – und erst recht keine Seele.

A. Konby (?), Public domain, via Wikimedia Commons
A. Konby (?), Public domain, via Wikimedia Commons

So fuhr ich also Ende Oktober, bei ungefähr 18 Grad Celsius im Schatten, im offenen Hemd frühmorgens durch den Tiergarten und wusste, dass ich mich im nächsten Frühjahr, und in allen kommenden, nicht mehr über die zwitschernden kleinen Maschinen aus Fleisch und Blut, aber ohne Seele, freuen würde.

Wollen Sie noch wissen, wie die Philosophiegeschichte weiterging? Eigentlich ganz konsequent. Gut hundert Jahre nach Descartes schrieb ein anderer Franzose – der auch einmal in Berlin lebte – ein Buch mit Titel: L’homme machine. Was das wohl heißt?

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