Wörter lernen

Ein für Sprachlerner besonders wichtiges und von der DaF-Didaktik leider vernachlässigtes Thema.

Wie lernt man am besten Wörter, und welche Wörter soll man lernen? Ein paar knappe Bemerkungen zu zwei für den Lernerfolg entscheidenden Fragen.

Die zweite Frage werden Sie vielleicht merkwürdig finden. Wenn man eine Sprache gut lernen will, sollte man natürlich alle Wörter dieser Sprache lernen. Wie viele Wörter gibt es aber? Der Wortschatz von Goethe, unserem ‚Nationaldichter‘, liegt bei knapp 100 000. Für den Alltag reichen aber schon ein paar tausend. Um Zeitung lesen zu können, brauchen Sie vielleicht fünf- oder sechstausend, je nach Niveau der Texte. Aber wenn es fünftausend Wörter wären, die man verstehen und vielleicht verwenden können muss (z.B. um eine B-2- oder C-1-Prüfung zu bestehen): ist das nun viel oder wenig?

Wir brauchen sicher noch eine andere Information: Wir müssten wissen, wie viele Wörter man eigentlich pro Zeiteinheit lernen kann.

Ein Kind mit fünf Jahren, das ist das beste Alter fürs Sprachenlernen, erwirbt pro Tag etwa zwanzig neue Vokabeln. Ein Erwachsener schafft das lange nicht mehr. Sie werden sich vielleicht fünfzig neue Wörter an einem Tag einprägen können. Aber am nächsten Tag sind davon noch die Hälfte im Gedächtnis, nach einer Woche noch drei oder vier. Machen wir es kurz: Ein Erwachsener sollte nicht damit rechnen, dass sein Wortschatz um mehr als fünf bis zehn Vokabeln pro Tag größer wird.

Und jetzt rechnen wir.

Sie wollen die C-1-Prüfung machen, in der Sie u.a. in kurzer Zeit mehrere lange, schwere Texte lesen müssen. Unter fünftausend Vokabeln hat man da kaum eine Chance. 5000:5 = 1000, 5000:10 = 500. Um sich den nötigen Wortschatz anzueignen, braucht man also eineinhalb bis drei Jahre – in denen man fleißig jeden Tag neue Wörter gelernt und ebenso fleißig die alten Wörter wiederholt hat. Viel oder wenig?

Die Rechnung, die ich hier aufgemacht habe, ist extrem vereinfacht, außerdem wurden andere wichtige Faktoren z.B. für erfolgreiches Leseverstehen nicht berücksichtigt; aber wir wollen nicht Experten für didaktische Theorie werden, sondern Orientierung für die Praxis gewinnen. Ich möchte vor allem klarmachen, dass die Situation in einem B-2- und vor allem in einem C-1-Kurs ganz anders ist als in einem B-1-Kurs. Eine B-1-Prüfung kann man schaffen, auch wenn man nicht fleißig Wörter lernt und wiederholt. Eine B-2-Prüfung nur, wenn man großes Glück hat, und eine C-1-Prüfung gar nicht.

Damit ist auch klar, dass man genau darauf achten muss, welche Wörter man lernt. Die ‚wichtigen‘ natürlich, die fünftausend oder mehr, die man beherrschen sollte, um einen schwierigen Zeitungsartikel zu verstehen. Der größte Fehler, den man beim Wörterlernen machen kann, besteht dagegen darin, jedes neue Wort aus einem Lehrbuchtext lernen zu wollen; denn darunter sind ganz sicher ebenso viele „unwichtige“, niederfrequente Wörter, die Ihnen also lange nicht mehr begegnen werden, wie wichtige.

Was lernen? statt Wie lernen?

Interessanterweise beschäftigt sich die DaF-Didaktik heute praktisch nur noch mit der ersten Frage: Wie lernt man? Natürlich: Adjektive immer mit „Antonym“ lernen (alt – jung), mit neuen Wörtern „Sätze bilden“ usw. Diese und ähnliche Ratschläge haben Sie sicher schon oft gehört.

Es ist interessant, dass in ein paar Jahrzehnten offenbar niemand bemerkt hat, dass das meiste davon nicht funktioniert bzw. sinnlos ist; solange man sich nämlich keine Gedanken darüber macht, welche Auswahl man treffen sollte.

Wenn man sich die Wortschatzlisten vieler Lehrbücher durchschaut, stellt man fest, dass oft völlig irrelevantes Vokabular angeboten wird. Und welchen Sinn hat es dann, seltenste Adjektive – sowieso die unwichtigste Wortart – mit vielleicht noch seltenerem Antonym zu lernen? Und was das „Sätzebilden“ betrifft: Welchen Sinn soll das haben? Wenn Sie’s schon können, was lernen Sie dabei? Wenn Sie’s nicht können, wie sollen Sie’s dann tun?

Rechnen Sie immer damit, dass sprachdidaktische Empfehlungen in der Form, in der sie im Klassenzimmer ankommen, reiner Nonsens sind. Reflektieren Sie dafür immer Ihre eigene Methode und überprüfen Sie, ob Sie damit Erfolge erzielen. Es ist eigentlich einfach: Der Wortschatz muss kontinuierlich größer werden. Wenn heute die Wörter schon wieder vergessen sind, die Sie vor einer Woche gelernt haben, stimmt etwas nicht. Und wenn neu gelernte Wörter nicht relativ bald in anderen Texten wieder auftauchen (und damit das Leseverstehen verbessern helfen), dann haben Sie wahrscheinlich die falsche Auswahl getroffen.

Ein Beispiel für eine völlig absurde Wortschatzliste aus „Aspekte“ finden Sie hier auf dem Blog in der Kategorie Antidaf: Wahnsinn und Methode. Aber kommen Sie bloß nicht auf die Idee, das Zeug zu lernen.

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